Norwegen 1. Advent: 200 Chöre singen in der Kirche die 899 Lieder des Gesangbuches und das Fernsehen überträgt es von Freitagnachmittag bis Sonntagabend. Das Zeit Magazin vom 17. Januar 2015 nennt das Weltflucht-TV. Ist es das?
Oder ist das vielleicht die Korrektur von Etwas? Ein sich Besinnen? Ein Innehalten? Dem Rasen etwas entgegensetzen? Ein Statement zum Thema Zeit? Die Reduzierung der Bilder auf Menschenmaß? Es hat etwas Monogames: über Stunden, Tage nur eine Sendung im zweiten Programm und das ist nicht Game of Thrones. Auch etwas Rebellisches: „Ihr kriegt mich nicht dazu, durch mein Leben zu hetzen.“ „Ich lass mich nicht weiter optimieren, trage auch kein Fitnessarmband und schere mich nicht drum, dass mein Leben endlich ist.“
Macht das den Erfolg des Sakte-TV, des Slow Television in Norwegen aus? Und wie viele von den 134 Stunden Dampferfahrt auf den Hurtigruten würde ich mir im Fernsehen ansehen? „Minutt for minutt“, wie die Norweger zu sagen pflegen.
Vielleicht fange ich lieber mit einem Buch oder einem Film über Leute an, die ein Leben führen, in dem Raum für tagelange Echtzeitübertragungen vom Pullover stricken oder Kaminfeuer ist. Sehnsucht nach einem solchen Leben hätte ich schon. Da merke ich auch gleich den Unterschied zwischen dem Zeitungsartikel und einer Geschichte.
Die Geschichte bräuchte ich jetzt, um mir ein Leben vorstellen zu können, in dem ein Fernseher in der Küche steht und ein anderer bei der Arbeit – nachts in der Tankstelle – und beide, die Tankwartin auf Nachtschicht und ihr Vater auf Rente sehen aufs Meer …oder hören Lied 821 aus dem Gesangbuch (da müssten wir irgendwo bei Allerseelen angekommen sein) und ihre Seelen wandern …und mir fällt der Anfang des dritten Teils von Fluch der Karibik ein, als ein Ausrottungsversuch gegen die Piraten unternommen wird und sie, wie am Fließband, in 7er Reihen gehängt werden und ein kleiner Junge, während er dafür ansteht beginnt das Lied zu singen, in das alle einstimmen, das Lied, das den Tod nicht aufschiebt und doch alles verändert.
Wenn viele gleichzeitig 8 Stunden eine Slow-TV Sendung sehen und vielleicht noch darüber sprechen, live oder auf Facebook, verändert das auch was? Schafft Gemeinschaft, ein Teilen von Werten? Im World Happiness Report 2013 lagen die Norweger auf Platz 2 hinter den Dänen.
Ah, Zeit und ihre Abhängigkeit vom Ort: nicht nur nördlich der Bundesrepublik, auch ein kleinwenig weiter südlich herrschen da ganz andere Vorstellungen, wieviel Zeit für was notwendig oder angebracht ist. Ein wunderbares Beispiel sind Erledigungstelefongespräche, Anrufe bei irgendeinem Amt zum Beispiel. In Deutschland sieht das Schema ungefähr so aus:
Anrufbeantwortender: Meierfinanzamtpostdammittelmarkwaskannichfürsietun?
Anrufender: Müllerschönengutentagichhabeeinefragezumeinersteuererklärungbinichdabeiihnenrichtig?
In der Schweiz zum Beispiel möchte man von solch einer zielgerichteten Telefoniererei nichts hören. Viel zu unhöflich, gut Ding will Weile haben und überhaupt, bevor man über so privat-pikante Dinge wie eine Steuererklärung spricht, möchte man sich in der Schweiz zunächst näher kennen lernen. Das Gespräch lautet dann eher so:
Anrufbeantwortender: Grüassach! Meier hier!
Anrufender: Grüassach Frau Meier, Müller mein Name.
Anrufbeantwortender: Grüassach Frau Müller.
Anrufender: Bin ich da richtig beim Finanzamt Bern?
Anrufbeantwortender: Jawohl. Wobei kann ich Ihnen helfen?
Anrufender: Ich habe eine Frage zu meiner Steuererklärung.
Anrufbeantwortender: Ah, jawohl. Ja.
Anrufender: Bin ich da richtig?
Anrufbeantwortender: Jawohl, ja. Da sind Sie richtig.
(Usw…)
Prescht man in der Schweiz allzu forsch mit Namen und Anliegen voran, kann es einem passieren, als unhöflicher Cheib abgestempelt und telefonisch ignoriert zu werden. Nichts ist unangenehmer als langes schweizerdeutsches Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Andersherum reagieren deutsche Beamte gar nicht erfreut und geduldig, wenn man ihnen am Telefon allzuviel Zeit zum beantworten fröhlicher Begrüssungsformeln lässt. Das geht von der Mittagspausenzeit ab. Hier sind die Schweizer allerdings deutlich im Vorteil, von 12.00h bis 14.00h kann man telefonisch sowieso niemand erreichen, die Telefone werden einfach abgestellt.
Wunderbare kulturelle Studien zum Thema Länder und ihr Lebenstempo hat Robert Levine mit seinem Buch „Eine Landkarte der Zeit“ zusammengefasst. Er analysiert, wo auf der Welt das Lebenstempo am höchsten und wo am niedrigsten ist und wie dies mit der Zufriedenheit der Menschen korreliert. Ausserdem gibt er Aufschluss darüber, inwiefern Zeit ein Indikator für gesellschaftliche Stellung sein kann (Je weniger Zeit ich habe, desto wichtiger bin ich; Je länger ich dich warten lassen kann, desto höher ist mein sozialer Rang gegenüber dem Deinen.) und berichtet, was Zeit mit unserer Psyche und was unsere Psyche mit der Zeit anstellt.
Aber auch in der Fiktion finden sich genüssliche Beschreibungen von kulturell unterschiedlichem Zeitempfinden: In Tony Hillermans Navaho-Krimis freut man sich jedes Mal diebisch, wenn Police Officer Jim Chee, wieder einmal mindestens eine Stunde zu spät, mit den Worten: „Ya-Ta-Hee, you running on Navaho Time?“, begrüsst wird.
Kurzer Einschub: Ich wünschte irgendwer würde endlich erkennen, dass ich mich nunmal auch nach der Navaho-Uhr richte, auch Blonde, Blauäugige können im Herzen Indianer sein.
Zurück in die Schweiz: Ein tolles Beispiel für schweizer Weltflucht-TV konnte man vergangene Woche bei den Solothurner Filmtagen bewundern. History Sugar Dream- Expedition, ein Film von Gregor Brändli und Jeremias Holliger lieferte ca. 90 Minuten lang mehr oder aber meistens eher weniger bewegte Bilder zum opulenten Experimental Free Jazz Klangteppich von Rusconi. So standen und sassen 12 verschiedene Peter in einer malerischen Männergruppe um und auf einer Sofagarnitur in Bern umgeben von Lautsprechern aus denen ein Stück von Rusconi schallt, Aargauer Hühner stolzierten in ihrem Stall um ein Tonband mit Aufnahmen der Band, ein Jeep blinkte in der verschneiten, dunkelnden Bergeinöde der Jungfrauregion nicht ganz im Takt zur Musik aus seiner aufgeschnallten Stereoanlage und Zuguterletzt taten ein paar Zirkuslöwen aus Schwyz das einzig Vernünftige und frassen, zur Erleichterung des klanggeplagten solothurner Publikums, die Rusconi Schallplatte direkt vom Plattenspieler in der Manege.
Die Regisseure verkündeten im Anschluss, sie hätten experimentell beobachten wollen, wie Menschen sich beim kollektiven Musikhören verhalten, vor allem wenn man ihnen noch zusätzlich bewegte Bilder zeigt. Ich fand, die haben einen fundamentalen Denkfehler gemacht. Kollektives Musikhören zu bewegten Bildern ist doch ein schon bekanntes Konzept: es heisst Konzert. Die Weltflucht ist ihnen allerdings gründlich gelungen: nichts in dem Film schien real.
Ich musste bei deinen Fragen zum Slow Television daran denken, wie mir ein ehemaliger Skandinavien-Korrespondent erzählt hat, dass im norwegischen Radio eine Interview-Pause erst ab 30 Sekunden zum Problem wird. In Deutschland dagegen wird schon eine verzögerte Antwort von 4 Sekunden eindeutig als Störung empfunden und muss auf jeden Fall vermieden werden. Vielleicht haben die Norweger einfach einen anderen Zeitbegriff als wir hier „im Süden“. Ich frage mich ja schon, wer sich täglich so eine Sendung wie das Alpenpanorama auf 3Sat von 7.30 – 9Uhr morgens ansieht…
Zum Stichwort Weltflucht fällt mir aber noch Else Lasker-Schülers Gedicht ein:
Weltflucht.
Ich will in das Grenzenlose
Zu mir zurück,
Schon blüht die Herbstzeitlose
Meiner Seele,
Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!
O, ich sterbe unter Euch!
Da Ihr mich erstickt mit Euch.
Fäden möchte ich um mich ziehn –
Wirrwarr endend!
Beirrend,
Euch verwirrend,
Um zu entfliehn
Meinwärts!